"Dieser Hund ist aber sehr dominant." Nein. Ist er nicht. Dominanz ist das meistmissbrauchte Wort, wenn es darum geht, das Verhalten von Hunden zu erklären. Dominanz beschreibt keinen Zusatnd sondern die Beziehung zweier Individuen zueinander. Ein Hund alleine kann nicht dominant sein. Mit Dominanz meinen Ethologen den Status eines Individuums, dass bei wiederholten agonistischen Aktionen mit einem anderen Individuum als Gewinner hervorgeht.
Bisher war galt die Vorstellung, dass es in einem Wolfsrudel eine knallharte Rangordnung gibt, bei der ein dominantes Alphatier das Vorrecht auf alle verfügbaren Ressourcen hat und dieses Vorrecht nach unten mit Zähnen und Krallen verteidigt. Kein schöner Zustand für die rangniederen Tiere. Daraus ergibt sich fast zwangsläufig die Annahme, dass Rangniedere nach oben streben und die Rolle das Alphatieres selbst einnehmen wollen.
Obwohl Hunde keine Wölfe mehr sind, wurde ihnen unterstellt, dass auch sie innerhalb ihrer Gruppe ständig daran arbeiten, die Herrschaft zu übernehmen.
Viele Verhaltensweisen wurden als "dominant" eingestuft und es galt, diese zu unterbinden. Aus dieser Anschauung entwickelten sich Erziehungsmaßnahmen wie der Schnauzengriff, bei dem man nicht einfach nur mit der Hand über die Schnauze greift, sondern auch ordentlich in die Lippen zwickt, oder Alphawurf, bei der man seinen Hund am Nackenfell packt, durch die Luft schleudert und auf den Boden klatscht um ihm zu zeigen, wer der Boss ist. (Das habe ich genau so einmal beobachtet. Ich hätte sonst nicht geglaubt, dass es das wirklich gibt.) Auch aus moderner Sicht niedliche Maßnahmen, wie immer voraus gehen, oben sitzen, zuerst essen, usw sollten die Dominanz des Menschen demonstrieren und die Rangordnung stabilisieren.
Frühere Beobachtungen zur Rangordnung und Dominanz von Wölfen wurden ausschließlich an Wölfen, die in Gefangenschaft lebten durchgeführt. Diese Wölfe lebten in künstlich zusammengewürfelten Gruppen, die nicht näher miteinander verwandt waren und die ein Zaun am abwandern hinderte.
Unter diesen Wölfen entwickelte sich tatsächlich diese knallharte Hackordnung. Allerdings galten für diese Wölfe auch Lebensbedingungen, die mit Gefangenen- oder Flüchtlingslagern vergleichbar sind. Es ist, als hätte man das Sozialverhalten der Menschen im RTL Frauenknast erforscht.
Bei freilebenden Wölfen sieht die Sache ganz anders aus. Im Prinzip ist ein Wolfsrudel nichts anderes als eine Familie. Das Alphapaar sind die Eltern, die anderen Wölfe sind die Würfe der vergangenen Jahre, die gemeinsam mit ihren Eltern die jüngsten Geschwister aufziehen. Es herrscht eine flache Hierarchie unter den Geschwistern. Es herrschen Dominanzbeziehungen, die aber nicht starr und linear sind.
Dominanz wird von unten stabilisiert. Dominanz nimmt man sich nicht, indem man dominantes Verhalten zeigt und andere unterdrückt. Dominanz erhält man durch das submissive Verhalten der Artgenossen. Man wird zum Alphatier praktisch gewählt. Der Alphastatus entspricht mehr dem eines Gurus als eines Diktators.
Man unterscheidet zwischen formaler und situativer Dominanz. Situative Dominanz kann situationsbedingt umgekehrt werden und das rangniedere Tier zeigt dominantes Verhalten einem ranghöhren gegenüber.
Formale Dominanz besteht dauerhaft. Man erkennt sie an der Körperhaltung. Die einzige Funktion, die von situativer Dominanz unberührt ist, ist die Anführerschaft. Das formale Alphatier bestimmt immer, wann geruht, wann gejagt wird, wohin die Reise geht.
Es gibt auch keine Futterrangordnung. Nach ihr sollte das Alphatier zuerst und uneingeschränkt Zugang zum Futter haben. Der Rest der Gruppe kriegt, was übrig bleibt.
In Wirklichkeit haben alle gleichzeitig Zugang zum Futter. Das Alphatier verweilt ununterbrochen am längsten an der Futterquelle, insgesamt haben aber alle Wölfe gleichviel Zugang, unanhängig von ihrem Rang. Und jeder verteidigt sein Futter - auch gegen Ranghöhere.
(Wäre ja auch doof, wenn der Alpha seine Mitjäger - die ja aucgh noch seine Nachkommen sind - verhungern läßt... )
Auch verwilderte Haushunde leben in Gruppen, die sich aus verwandten Individuen zusammensetzen. Sie teilen sich ein Territorium und verteidigen es gegen Fremde. Genau wie Wölfe.
Im Unterschied zu Wölfen ist die Fortpflanzung nicht ausschließlich den Alphatieren vorbehalten. Submissives Verhalten dient den Haushunden, Konflikte zu zerstreuen, während es bei Wölfen den Zusammenhalt der Gruppe stärkt.